Die geteilte Geschichte
Eine Heimatgeschichte aus dem Oderbruch
(Von Merle Hilbk)
Auch, wenn ich das Wort nicht mag – ja, ich bin ein Wessi. Sozusagen die Inkarnation eines Wessis: geboren und aufgewachsen in Nordrhein-Westfalen, vor der Wende nie in der DDR gewesen, nie vom Sozialismus geschwärmt.
Als sich die Mauer öffnete, saß ich in Münster ungerührt vor dem Fernseher und dachte: Na, morgen machen sie das Ding sowieso wieder zu. Die Teilung der Welt in Ost und West war für mich eine unumstößliche Tatsache. Ich hätte mir die Welt gar nicht anders vorstellen können als in zwei Hälften geteilt.
Aber ich hatte mit meinen Eltern oft am Westufer der Werra gestanden und nach Lindewerra. DDR, hinübergeblickt, wo eine Tante meiner Mutter wohnte, über die sie sprach wie über jemanden, der gestorben war. Von einem Hügel schauten wir hinab auf den Todesstreifen, der taghell beleuchtet war, hörten das „Waffwaff“ der Schäferhunde. Dahinter lag dieses Fachwerkdorf, das, wenn man einen Film über die Deutsche Romantik drehen wollte, dafür die perfekte Kulisse abgegeben hätte – wenn nicht der Stacheldraht gewesen wäre, der es vom Rest der Welt abriegelte, die Schilder „Achtung, Selbstschussanlage!“ und die Wachtürme, deren Design mich an das sibirische Lager erinnerten, aus dem der Bruder meines Großvaters 1954 zurückgekehrt war.
Ein Ort, ein Land in der Matrix, unerreichbar, unvorstellbar, eine Terra incognita, die tausend Phantasien weckte. Melancholische Phantasien, die etwas in mir anrührten, das so gar nicht in die Generation-Golf-Welt passte, in der ich aufgewachsen war – weswegen ich nur ironisch darüber sprach. Sonst wäre mir wohl bewusst geworden, dass es Dinge gab, die meine Identität bestimmten, die ich mir nicht ausgesucht hatte. Dinge, die Sehnsüchte produzierten, die ich mir nicht erklären konnte.
Das, was man uns in der Schule über den Osten erzählte, schien vor allem darauf angelegt zu sein, uns das Gefühl der Erleichterung zu vermitteln – darüber, auf der besseren Seite zu leben. Wie desolat und ungepflegt die Wohnsiedlungen dort seien, schimpfte ein Lehrer. Wie träge und unselbstständig der Sozialismus die Menschen gemacht habe, mein Onkel. Wie schrecklich sie von diesem System unterdrückt würden, ein Nachbar. Natürlich weckte das eher unsere Neugier, wie alles, was man uns als düster, nebulös und irgendwie verboten darstellte.
Und so kam es, dass wir unseren Abi-Scherz diesem Osten widmeten. In Lacoste- Hemden und Bundfaltenhosen zertrümmerten wir einen delphinblauen Trabi, den ein Mitschüler einem Ost-Verwandten abgekauft hatte. Dazu brüllten wir „Perestroika!“, und ließen aus einem Ghettoblaster die Internationale über den Schulhof wummern, mit Technobeats unterlegt.
„Weißt du eigentlich, was das bedeutet: Perestroika?“ fragte mich ein Klassenkamerad, den ich im Oktober 1988 in einer Kneipe wiedertraf. Ich zuckte mit den Schultern. „Es heißt Umbau,“ sagte er, „habe ich neulich im Politikstudium gelernt.“
„Wieso haben wir das eigentlich gerufen?“ fragte ich. Diesmal war er es, der mit den Schultern zuckte.
Drei Monate später fragte mich ein Mann aus der Kirchengemeinde meiner Eltern, ob ich nicht ein Praktikum in der DDR machen wolle. Er habe über die Synode Verbindungen nach Ostberlin, und es wäre doch sicher interessant für mich, noch mal ein bisschen von der Atmosphäre zu schnuppern, so lange es das Land noch gebe, und schließlich wolle ich doch Journalistin werden!
Das, was mir als abstrakte Episode der Geschichte erschienen war, stand mir plötzlich als reales Abenteuer vor Augen, das diese Geschichte zum Bestandteil meines Lebens machen würde, das mir immer so seltsam geschichtslos erschienen war; so, als ob die Menschen in meiner Umgebung keine Vergangenheit hatten.
Aber vielleicht war es auch einfach das Lebensgefühl, das man nach dem Abitur hat: ausschließlich in die Zukunft zu blicken – die durch die Maueröffnung nun wie eine Verheißung vor uns lag. Vor uns, der Generation, die sich nun von der lähmenden Starre der Kohl-BRD befreien, die in einem Land, einer Gesellschaft im Umbruch erwachsen werden würde.
„Cool, ein Magazin für Planwirtschaft!“ sagten meine Studienkollegen, als ich ihnen von dem Praktikum bei der Ostberliner „Wirtschaft“ erzählte. Und so rief ich den Mann aus der Kirchengemeinde an und sagte: „Natürlich will ich!“
Drei Wochen später holperte ich mit meinem Peugeot 205 über die Transitstrecke und schließlich über die Frankfurter Allee, die mich, aus der Backstein-Sandstein- Heimeligkeit des Münsterlandes kommend, in ihrer nüchternen Mächtigkeit zugleich einschüchterte und beeindruckte.
Ich hatte damit gerechnet, dass man mich in der Redaktion der „Wirtschaft“ ausfragen würden, über das Leben in Nordrhein-Westfalen, meinen Alltag, mein Bild von der DDR. Aber niemand fragte mich etwas.
Nach ein paar Tagen wagte ich mich, selbst zu fragen, und erfuhr, dass die Redakteure am „Roten Kloster“ in Leipzig studiert hatten. Seltsam, dachte, die Kirche bildet Journalisten aus? Keiner lachte, als ich meine Verwunderung äußerte. Man erklärte mir knapp, dass es sich um eine journalistische Kaderschmiede handele, zu deren Curriculum auch die Arbeit „in der Produktion“ gehört habe. „Haben Sie schon einmal in einem Werk gearbeitet?“ wurde ich gefragt.
Ich schüttelte den Kopf – und schämte mich plötzlich, dass ich noch nie eine Fabrik von innen gesehen hatte. Auch, dass ich das Schreiben bei einem alternativen Stadtmagazin gelernt hatte, in dem in den Redaktionskonferenzen abstrakt, aber erregt über den Kommunismus diskutiert wurde, behielt ich für mich.
Ich fühlte mich als Ausländerin, überwältigt von der so alltäglich erscheinenden Welt rund um meinen Praktikantenschreibtisch, deren Atmosphäre mir doch so fremd erschien. Ja, ich vermied es, aufzufallen – und tat das doch mit jedem meiner Themenvorschläge, die so deutlich aus einem anderen System kamen, mit – wie Marx es nennen würde – den Erscheinungen der Warenwelt, vor allem aber mit einem Blick auf die Welt, der an diesem Ort auf Unverständnis stieß: Ironie.
Im Gegenzug dachte ich: Wie kommt es nur, dass ihr hier alles so furchtbar ernst nehmt?
Eines Morgens rief mich der Redaktionsleiter in sein Büro – und siezte mich plötzlich.
„Sie studieren doch Jura im Westen!“, sagte er. „Da können Sie sicher erklären, was es mit dieser DM-Eröffnungsbilanz auf sich hat.“
Ich hatte noch nie von einer DM-Eröffnungsbilanz gehört, und so setze ich mich an ein Wählscheibentelefon und rief in Bonn im Wirtschaftsministerium an, um mir per Post – das Internet war noch nicht erfunden – Material schicken zu lassen. Dann schrieb ich meinen ersten Artikel für die „Wirtschaft“ – dem ein halbes Dutzend weitere folgten, über Gesetze, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte, und deren Sinn sich mir ebenso wenig erschloss wie die Eile, in der sie verabschiedet wurden.
In den folgenden Monaten wurde ein ganzes Land umgebaut, und ich wurde zur Expertin ernannt, die diesen Umbau erklären sollte. Meine Expertise beruhte auf einer einzigen Qualifikation: ich war eine Staatsbürgerin des Landes, das diesen Umbau so hektisch vorantrieb.
Ich musste an unseren Abiturscherz denken, den wir ein Jahr vor der Maueröffnung so ahnungslos „Perestroika“ getauft hatten. Ein Wort von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, das sich nun der Westen anzueignen schien. Und so bemühte ich mich pflichtschuldig, in aller Nüchternheit das zu dokumentieren, was die Redakteure und mich selbst fassungslos machte.
Am Ende meines Praktikums kam die Nachricht, dass die Redaktion aufgelöst werden sollte. Die „Motorpresse“ aus Stuttgart wollte den Verlag kaufen, und der Redaktionsleiter fragte mich, was sie jetzt tun sollten. Ich schwieg betreten. Ich war 20 Jahre alt, und das Land, in dem ich groß geworden war, war mir fremd geworden.
Es war ein Gefühl der Heimatlosigkeit, das mich scheinbar plötzlich überfallen hatte. Oder war es immer schon da, und war mir nur jetzt, in der Gefühlsverwirrung des Umbruchs, zum ersten Mal bewusst geworden?
Jedenfalls war ich mit diesem Gefühl nicht allein, vielen meiner (West-)Freunde ging es ähnlich. Ein ambivalentes Gefühl, das uns einerseits ruhelos und unsicher machte, andererseits eine ungeheure Entdeckerlust in uns weckte. Es war, als ob wir auf einem schwankenden Schiff tanzen würden.
Und so brachen wir voller Neugier in den Osten auf, zum Studium nach Leipzig, zum Praktikum nach Halle und Dresden, zum Eintauchen in das Nachtleben in den Kellern und Abbruchhäusern Ostberlins.
Dort ärgerten wir uns über die Zeitungsartikel und Fernsehberichte, in denen nur Wessis, die aus Karriere- oder Geldgründen in den Osten gegangen waren, auftauchten. Wer in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung die Zeitungen aufschlug, musste den Eindruck gewinnen, dass ein schlechter Notendurchschnitt
beim juristischen Staatsexamen, eine stockend laufende Versicherungsagentur oder die Aussicht, einen Industrie-Konkurrenten für ein paar Westmark vom Markt wegzukaufen, die einzigen Gründe waren, sich in den neuen Bundesländern niederzulassen.
Aber obwohl viele aus meinem Freundeskreis in den Medien arbeiteten, protestierten wir nicht – zumindest nicht öffentlich. Denn was es genau war, was uns in den Osten zog und dort hielt, hätten wir nicht beschreiben können. Es war ein Gefühl, das wir damals noch nicht in Worte fassen konnten.
21 Jahre später, an einem Nachmittag mit Freunden im Oderbruch, schossen mir diese Worte auf einmal durch den Kopf: es war das Gefühl eines Mangels, an dem wir gelitten hatten. Eines Mangels an Geschichte, die unsere Großeltern, Eltern, Lehrer in Bücher verbannt, in Zahlen, Daten und Anekdoten versteckt hatten.
Ja, es war, als ob es in diesen Büchern, diesen Daten und Anekdoten um das Leben der anderen ging. Es gab keine Gefühle zu dieser Geschichte, und der Kalte Krieg hatte diesen Zustand zementiert. So hatte auch mich die Maueröffnung zunächst so unberührt gelassen – und das Praktikum in Ostberlin so aufgeweicht. Vielleicht war es auch die unbewusste Sehnsucht, dass die geschichtslose Zeit nun ein Ende hätte.
Und so saß ich nun mit Freunden aus Ost und West unter einem Apfelbaum, hinter einem Hof am Dorfrand, den ein Filmemacher renoviert hatte, den das Künstler- Leben in Berlin-Mitte erschöpft hatte. Und fragte mich, warum wir uns an diesem Ort so wach fühlten. Ob es nur diese Berlin-Mitte-Sehnsucht nach Einfachheit und Überschaubarkeit war, nach dem Geruch von Erde und Nachbarn, die einen nicht ungefragt in ein Gespräch über Veganertum und Postmoderne verwickelten, die hier Erfüllung fand – oder ob es nicht diese Umgebung war, dieses vergessene, verbaute brandenburgische Dorf, die etwas in uns heilte: diese bröseligen Fassaden und wetterzerfressenen Schilder, die Geschützkrater im Wald, die Selbstversorger-Gärten, in denen alles wuchs, was sich einwecken und einkellern ließ. Diese Runzeln und Falten in den Gesichtern der Nachbarn, ihre Erzählungen vom Krieg, über die Gartenzäune hinweg, von der Kollektivierung, der Wende, die so nah klangen, dass sie ein Band zu uns woben. Zu uns, den Fremden.
Die Freunde, die den Hof gekauft haben, stammen aus Baden-Württemberg, und waren in einer eigenartigen Stimmung von ihrer Besichtigungstour zurückkehrt. Es war Oktober, der Himmel trist wie die Fassaden der Häuser. „Warum legen diese Brandenburger nur so wenig Wert auf Ästhetik!,“ schimpften sie am Abend in Berlin. Aber ein Bier später erzählten sie zögernd, dass sie sich seltsam angezogen gefühlt hätten von dieser Gegend. Erzählten, wie sie vor 20 Jahren aus dem Schwäbischen geflohen waren, dieser geputzten, heimeligen Welt, in der alle Brüche zugespachtelt und jedes Scheitern als persönliche Schwäche ausgelegt worden wäre. Geflohen, weil sie das Gefühl hatten, hinter diesen Vorzeige-Fassaden von einer unerklärlichen Taubheit und Apathie befallen zu werden. „Seltsam,“ sagten sie. „Im Oderbruch haben wir uns irgendwie wirklicher gefühlt.“
So hatte auch ich mich lange im Osten gefühlt, in Ostberlin, Mecklenburg, in Minsk, Moskau und Novosibirsk. Meine Texte, meine Bücher: alles hatte irgendwie mit diesem Osten zu tun – der mir gleichwohl immer ein Stückchen fremd blieb. Es war eine Liebe auf Distanz. Eine Distanz, die ich auch zum Westen entwickelt hatte, damals in den Monaten bei der „Wirtschaft“, und die sich in den folgenden Jahren noch vergrößerte. Ich wollte mit dieser Welt nichts mehr zu tun haben, die mir im Rückblick so kulissenhaft und starr erschien.
Als ich 40 wurde, wunderte ich mich, wie man sich so heimatlos fühlen kann. Genauso wie meine Ost-Freunde, die nach der Wende in den Westen gegangen waren, um dort das Lebensgefühl zu suchen, nach dem sie sich im Osten gesehnt hatten: Bürgerlichkeit, Buntheit, Lebendigkeit, Überfluss, Rausch – und in der ersten großen Lebenskrise bemerkten, wie wurzellos sie sich fühlten.
Und so saßen wir, die Veränderungssüchtigen aus Ost und West, mit Mitte 40 unter einem Apfelbaum im Oderbruch und diskutierten über Heimat.
„Klingt absurd,“ bemerkte Klaus, der im Ruhrgebiet aufgewachsen war. „Da sitzt eine Gruppe Linker zusammen und redet sich über das Kernthema der Konservativen die Köpfe heiß!“
„Du hast gut reden! Du hast doch deine Heimat nicht verloren,“ schimpfte Falk, der in Dresden Protestaktionen organisiert hatte und von seinem Bruder an die Stasi verraten worden war. „Dein Geburtsland existiert noch, wenn du zu deinen Eltern fährst, sieht es da fast genauso aus wie früher.“
„Aber das Land, in dem wir aufgewachsen sind, hat sich doch auch verabschiedet,“ entgegnete Anke aus München, die nach dem Studium einen Job bei der Treuhand angetreten hatte, der ihr, wie sie sagt, „den Glauben an Gerechtigkeit ausgetrieben hat“. Sie zündete sich eine „Cabinet“ an. „Wenn ich an die alte, soziale BRD denke, werde ich ganz wehmütig.“
Jan, der in den 90ern aus Brandenburg nach Hamburg gezogen war, wedelte mit dem „Freitag“, der immer auf dem Tisch lag, um die Gnitzen zu vertreiben. „Wisst ihr, ich habe meine Jugend in der DDR komplett verdrängt,“ sagt er. „Ich wollte im Westen einfach dazugehören.“
Heute, sagte er, fühle er sich in zwei Hälften geteilt, die er nicht zusammen bringen könne: den Jan vor und den Jan nach der Wende.
Ich saß stumm daneben, blies Rauchwolken in den Gnitzenschwarm, und dachte: Da hocken wir Westler und Ostler 2012 gemeinsam im Oderbruch – und das, was uns verbindet, ist ausgerechnet das Gefühl des Geteiltseins.
Natürlich gehört die Identitätssuche, der Zweifel zu den kritischen Übergangsphasen, zur Midlife-Crisis, in der wir mit Mitte 40 alle irgendwie steckten, seitdem uns klar geworden war, dass auch unsere Chancen und Wahlmöglichkeiten geschrumpft waren.
Aber das, was uns plagte, so schien mir, war mehr als eine private Midlife-Crisis: eine politisch getriggerte, eine gesellschaftliche Identitätsverwirrung. Vor beinahe einem Vierteljahrhundert war der Kalte Krieg zu Ende gegangen, mit all seinen Bildern und dem Nebel, den er in unseren Köpfen hinterlassen hatte. Und wir, die im Frieden aufgewachsenen Kinder dieses kalten und Enkel des heißen Krieges, fragten uns, wer wir waren und wo wir hingehörten.
Ein Jahr später fuhren wir an einem Sommertag in Falks selbst zusammengeschweißten VW-Bus durch das Bruch. Ich legte eine CD ein, Sillys
„Bataillon d’amour“. „So was besitzt du? Ich dachte, ihr Wessis habt Ostrock doch früher für peinlich gehalten!“ feixte Jan. „Klar, Polittexte auf Deutsch – das ging gar nicht, “ bestätigte Anke – und begann, „Sag mir, wo du stehst“, vor sich hin zu summen, weil sie wusste, dass ihn „Oktoberclub“ auf die Palme bringen würde.
Anke und Jan sind ein Ost-West-Paar. Als sie ihren ersten Urlaub zusammen planten, wollte Jan nach Südamerika. Doch Anke überredete ihn, an die Oder zu fahren, wo er aufgewachsen war – und nach der Wende so schnell wie möglich geflüchtet war.
„Aber es ist doch so besonders dort,“ hatte Anke gesagt. „Diese Leere und Weite – so was sucht man im Westen vergeblich!“ Für die Reise brannte sie eine CD mit DDR- Liedern, Silly, Karat und „Bau auf, bau auf“, das FDJ-Lied. „Das ist doch wohl ironisch gemeint?“ hatte Jan gefragt. „Nimm es, wie du willst,“ hatte Anke geantwortet. „Aber lass die CD bis zu Ende laufen!“
„Da musste erst eine West-Frau kommen, um mir den Osten wieder näher zu bringen!“ sagte Jan nach dem Urlaub, ebenso staunend wie Anke, als sie das erste Mal zusammen nach Bayern gefahren waren. „Wie habe ich diese ganze Wohlgeordnetheit gehasst!“ sagte sie. „Und dann standen wir in einer bayerischen Kleinstadt, und Jan hat gesagt: Wie wohltuend! Die Leute geben sich Mühe, ihre Umwelt schön zu gestalten!“
Doch zwei Jahre später setzte bei beiden eine Zeit der Verwirrung ein. Nichts schien mehr wie früher: Jan stellte fest, dass ihm die bürgerliche Selbstvergessenheit in Hamburg, die er anfangs so bewundert hatte, Minderwertigkeitsgefühle bescherte, und die Design-Ästhetik, nach der er sich in der DDR so gesehnt hatte, auf einmal fassadenhaft vorkam wie ein Potemkinsches Dorf.
Anke wurde bewusst, dass sie sich in Dresden, wo sie seit 20 Jahren lebte, noch immer wie eine Beobachterin fühlte. Sie meldete sich zu einer Gestalttherapie an, und in jeder Tonfigur, die sie dort ohne nachzudenken knetete, erkannte sie ein Haus. Ein Haus ohne Türen. „Sie sollten sich einmal intensiver mit dem Thema Heimat beschäftigen,“ riet die Therapeutin.
„Das ist doch ein Begriff unserer Großeltern,“ entgegnete Anke. „Kann man sich nicht überall zu Hause fühlen?“
„Fühlen sie sich eigentlich bei sich selbst zu Hause?“ fragte die Therapeutin.
Eine Frage, von der mir Anke Anfang Juni auf unserer Busfahrt durch das Oderbruch erzählte. Mir schossen unvermittelt Bilder durch den Kopf, von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass ich sie gespeichert hatte:
Der Kinderladen, in dem wir Höhlen aus Matsch bauten, statt Schleifen binden zu lernen wie die Kinder im benachbarten Kindergarten. Die Nonnen, die uns zuwinkten, wenn sie mit wehenden Gewändern über den Marktplatz von Telgte radelten. Die Mahnwachen vor der Lambertikirche gegen den Nato-Doppelbeschluss. Der Altgriechisch-Lehrer, dem im humanistischen Gymnasium die Tränen über die Wangen liefen, als wir zum ersten Mal den Beginn der Schöpfungsgeschichte frei rezitierten: „En archē ēn ho Logos kai ho Logos ēn pros ton Theon kai Theos ēn ho Logos.“
Und mir wurde bewusst, wie viel bürgerliche, humanistische, wie viel linksalternative, individualistische Prägung gleichzeitig in mir verankert war. Wie selbstverständlich mir das alles schien. Wie, ja, wie west-sozialisiert ich war.
Eine Prägung, die ich mir nicht ausgesucht hatte; die mir die Umgebung, in der ich groß geworden war, eingebrannt hatte, ohne dass es mir bewusst geworden war. Die ich für das Leben gehalten hatte, noch ohne ein anderes Leben zu kennen – und löschen wollte, als ich es kennen lernte. Aber die mich nun, 2013 in einem VW-Bus im Oderbruch, auf einmal mit Stolz erfüllte – ein Akt der stillen Abgrenzung.
Ein Akt, von dem auch Jan berichtete, als wir am Abend wieder unter dem Apfelbaum saßen. Im vergangenen Jahr sei er oft allein durch Brandenburg gefahren. Dabei seien ihm Szenen aus seiner Jugend durch den Kopf gegangen, Bilder, die er verdrängt hatte, weil sie ihn zu behindern schienen in seinem Hamburger Leben. Als er im Internetportal „Stayfriends“ ein Foto von sich mit FDJ-Halstuch entdeckte, habe er gedacht: „Scheiß drauf, ich bin nun mal ein Kind der DDR!“ Danach hätte sich das Gefühl des Geteiltseins allmählich aufgelöst. „So kitschig es klingen mag,“ sagte er, „ich hab’s ,Wiedervereinigung’ genannt.“
Auch mich ergriff endlich dieses Wiedervereinigungsgefühl, das ich bei der Maueröffnung vor dem Fernseher nicht verspürt hatte.
Und dachte: wir, die Kinder des Kalten Krieges, sitzen nun im Sommer 2013 gemeinsam in einem Dorf, in dem die Spuren des heißen noch nicht verwischt sind. Und sind endlich Teil dieser, Teil der ganzen Geschichte, die hinter den Kulissen unserer Geburtsorte verschwunden schien – und in der wir nun endlich Wurzeln schlagen.
Als die Dämmerung hereinbrach, zündeten wir ein Feuer an. Die Scheite knackten, die Hunde der Nachbarn bellten, und der Nebel senkte sich über die Felder. Die Welt hatte ihre Konturen wiedergewonnen, in einem Apfelgarten im Oderbruch.