Sibirski Punk

Eine Reise in das Herz des wilden Ostens
Verlag Gustav Kiepenheuer, Berlin

sibirski-punk

Klappentext

Sehnsuchtsvolle Balladen und russischer Rock ’n‘ Roll bilden den Soundtrack zu diesem transkontinentalen Trip, der 20000 Kilometer durch Steppen, Gebirge und Taiga führt. Merle Hilbk läßt uns an den witzigen, bizarren, mitunter auch sentimentalen Erlebnissen dieser Reise teilhaben. Wir begegnen Grigori, dem Direktor des Atomforschungsinstitutes der Wissenschaftlerstadt Akademgorodok, Swetlana, der Gründerin des ersten sibirischen Frauenautomobilclubs, oder Pjotr, dem Manager der Punkband „Orgasmus Nostradamus“. Mit ihnen teilt die Autorin Alltag und Träume, feiert wilde Partys am Baikal und lernt, wie man ein russisches Liebeslied singt.

Textauszug

Prolog

Rock’n Roll oder die Russische Seele

Sing noch einmal für mich, Mischa. Sing dieses Lied, das mir das Herz aufweicht und die Seele davonfliegen lässt, über die sanften Hügel des Ural, den Ob, den Jenissej, immer weiter und weiter gen Osten: „A kak perwaja lubov, ana sjerze schsjot – Und die erste Liebe, sie verbrennt das Herz.“ Sing, dass alles zurückkehrt: Die Tänzerin in der nächtlichen Steppe, die Melancholie und der Rock’n Roll.

Wir saßen in der Küche einer Hamburger Wohngemeinschaft zwischen Pastaresten und halbleeren Rotweinflaschen und diskutierten über das, über das wir immer diskutierten in jenem Winter: die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die Sozialstaats- Reformen der SPD, Joschka Fischers körperliche Verwandlung. Als wir wieder einmal an dem Punkt angelangt waren, dass alles verfahren sei und hoffnungslos sowieso, stand Mischa auf, um seine Gitarre zu holen.
Mischa ist Russlanddeutscher. Mit seinen Eltern und drei Schwestern ist er Anfang der 90er Jahre aus dem kasachischen Alma Ata nach Hamburg übergesiedelt, dank einer abgewetzten Mappe voller Dokumente, die die „deutsche Abstammung“ seines Vaters belegten und die seine Mutter jahrelang unter einem losen Brett im Fußboden versteckt hatte. „Die Papiere waren unserer Ticket in die Zukunft“, hatte Mischa erklärt, als wir ihn in einer der Russen-Discos kennen lernten, die mittlerweile auch in Hamburg in Mode sind. „Alle haben uns beneidet. Damals wollte doch jeder nach Deutschland.“
Am Anfang wunderten wir uns noch, als er zu unseren WG-Kochabenden keine selbst gebrannten CDs mitbrachte, sondern vorschlug, etwas zu singen. Singen – das klang nach Jahrgangsfeiern in der Waldorfschule und Hausmusikabenden bei beflissen- bildungsbürgerlichen Eltern. Unvorstellbar, so etwas freiwillig zu tun.
Wir feixten, als Mischa die Hände auf das Griffbrett der Gitarre legte. Doch als die ersten Töne durch den Raum schwebten, wurden wir ganz still. Meist waren es russische Popsongs, die er vortrug, mit einer Inbrunst und Versunkenheit, die uns sprachlos machte. Doch an diesem Tag sang er dieses Lied von Okudzawa, eines berühmten Liedermachers aus Sowjetzeiten, der für seine politischen und zugleich unendlich poetische Texte bekannt ist: „A kak perwaja ljubov“, und plötzlich verschwamm die Küche, Hamburg, der ganze Westen vor meinen Augen, und ich tauchte ein in dieses warme Gefühl der ersten Nacht im Osten, das ich so lange vergessen hatte.

Eine Wochenzeitung hatte mich zwei Jahre zuvor für eine Reportage über die Ausbreitung der Tuberkulose in die kasachische Steppe geschickt. In einem halbverfallenen Sanatorium bei Shimkent sah ich ein Mädchen, ein mageres, gebeugtes Wesen mit löchrigen Trainingshosen und nach innen gekehrtem Blick – bei Tage. Bei Nacht geschah mit ihm eine Verwandlung, wie ich sie noch nie erlebt hatte: Ein paar Ärzte hatten vor dem Haus eine Musikanlage aufgebaut und eine Okudzawa- CD aufgelegt. Ob sie nicht tanzen wolle, fragte einer von ihnen das Mädchen. Da richtete es sich kerzengerade auf und stolzierte auf die Tanzfläche, wo es ganz allein einen Walzer tanzte, eine Göttin mit fließenden Bewegungen und einer Verheißung im Blick, so brennend, dass die Männer betreten zu Boden blickten.
Das, durchfuhr es mich in diesem Moment, ist der Osten: dieser Tanz auf dem schmalen Grad zwischen Verzweiflung, plötzlich explodierender Energie und Lebensgier. Einer Gier, die auch mich ergriff, in dieser Nacht in der sommerheißen Steppe, die mir den Brustkorb weitete und alles vergessen ließ, was mir den Atem gestockt hatte: die Existenzängste, die Kratzer auf der Seele von zu vielen Abschieden und zerbrochenen Lieben. Und mich an diesem Winterabend in Hamburg wieder einholte.

„Was ist los mit dir?“, fragten die anderen, als ich noch Minuten nach Mischas Lied wie betäubt am Tisch saß. „Wisst ihr, was Rock’n Roll ist?“
„Was für eine überflüssige Frage!“, murrte Paul. „Wir wohnen hier auf St. Pauli!“
„Ich meine, so richtig! So, ja… Eben so wie im Osten!“
„Im Osten? Ausgerechnet?  Ich glaube, Du solltest nicht immer so viel Rotwein …“
„Lass sie!“, mischte sich plötzlich Mischa ein, „dawei!“, und goss mir noch ein Glas ein. Ich erzählte ihm von dem Walzer-Mädchen aus Shimkent. Mischa nickte kurz. Dann lud er mich zu einem Familienfest ein.

„Rock’n Roll?“, fragten auch Mischas Verwandte verwundert, als ich ihnen von  meinem Erlebnis in der Steppe erzählte. Und schwiegen. „Bei uns wurde so was früher Russische Seele genannt“, sagte schließlich einer der Onkel bedächtig, nachdem er der Gastgeberin gemeinsam mit Mischa ein besonders trauriges Lied vorgesungen hatte.
Wenige Stunden später kaufte ich mir eine Karte der „Russischen Föderation“. Denn an diesem Nachmittag war mir klar geworden: Ich musste die russische Seele suchen, um den Rock’n Roll zu finden. Den Rock’n Roll der Steppen, Taiga und Berge, der das Mädchen vor meinen Augen verwandelt hatte. Und den ich so gerne auch am eigenen Leib spüren wollte.

Doch wo anfangen in diesem Riesenreich, das sich 9000 Kilometer von der westrussischen Tiefebene bis zum Ochotskischen Meer dehnt; das zwei Kontinente   und elf Zeitzonen umspannt, Tundra, Taiga, Steppen und Gebirge; das so groß, so kalt und so Mythen umwoben ist wie kaum ein anderes Land der Erde ist? „Sag mir, wo soll ich nur hinreisen?“, fragte ich Zhenja, meine Russischlehrerin.
Zhenja stammt aus Burjatien, einer Region in Ostsibirien, über die sie regelmäßig schimpft: Manchmal über die schweflige Luft und die düsteren, unrenovierten Wohnblocks, in denen ihre Verwandten hausen, meistens aber über die vielen betrunkenen Männer im heiratsfähigen Alter.
Aber als ich sie auf die russische Seele ansprach, sagte sie prompt: „Jestjestwenno w Sibirii“, natürlich müsse ich nach Sibirien fahren, denn das sei einfach der Ort für meine Suche. Die Natur, die Gastfreundschaft, die Gefühle – alles sei dort extremer als in anderen Teilen Russlands. Nirgendwo sonst sei Russland noch so russisch; so rau, so melancholisch und so voller Widersprüche. Kurz: wenn ich die Russische Seele finden wollte, käme ich um Sibirien nicht herum.

Im darauf folgenden Sommer kaufte ich mir in einem kleinen russischen Reisebüro ein Flugticket von Air Sibir: München-Moskau-Novosibirsk, gültig für vier Monate. Dann stopfte ich einen Stapel Notizbücher und Karten in einen Rucksack und legte mir im Kopf eine Reiseroute zurecht. Von West nach Ost wollte ich das Land durchreisen, vom Ob über den Jenissej und die Selenga bis an den Baikalsee, mit der Transsibirischen Eisenbahn, mit Überlandbussen, Fähren und Lada-Jeeps. Wollte mich in Plattenbauten, Datschen und Ferienhütten einmieten, mit Russen Discofox tanzen, mit Burjaten Baikalgras rauchen und mit Wissenschaftlern über die Weltläufte diskutieren. Und am Ende hoffentlich das finden, was mich immer weiter gen Osten getrieben hatte.
„Verlass dich einfach auf diese Kassette“, sagte Mischa nur, als ich in die Maschine stieg, eine riesige, blau-weiße Tupolev, „ist aber was Amerikanisches.“ Während die Tupolev den Ural überflog, die in keiner Karte markierte Grenze zwischen Europa und Asien, sang mir Lou Reed im Walkman ein Abschiedslied, das mich perfekter gar nicht auf diese Reise hätte einstimmen können: „Deep down inside you’ve got a Rock’n Roll heart“.