Roman. Erscheint voraussichtlich Frühjahr 2016
Das schönste Dorf am schönsten Fluss der Erde ist die abenteuerliche Geschichte einer Familie, die nach Russland auswandert und 200 Jahre später nach Deutschland zurückkehrt. Dazwischen liegen zwei Kriege, die Russische Revolution, die Sowjetunion und der Mauerfall. Ein Kriegsenkel-Roman aus zwei Ländern, der von Wurzelsuche, Scham und Sprachverwirrung handelt – und den Auswirkungen großer historischer Ereignisse auf das Familiengefüge. Erzählt aus der deutschen und der russischen Enkel-Perspektive.
420 Seiten. Drei Kapitel wurden für eine Lesereise mit dem Goethe-Institut ins Russische übersetzt.
Textauszug
1. Kapitel. Der Großvater
Hörst du mich, Großvater?
Ich erinnere mich noch genau, wie du gesagt hast: Ich kann noch nicht gehen! Nicht so! Und wie du dich gewehrt hast gegen das Ende, dich so aufgebäumt hast, dass deine Frau die Angst gepackt und sie nach uns gerufen hat, und wir sind gekommen, um das Fenster zu öffnen. Und du bist geblieben, hartnäckig, wie du nun einmal warst, eine Stimme in unseren Köpfen, die uns einschärft, nach vorne zu schauen, niemals zurück. Uns nicht umzudrehen, sondern vorwärtszumarschieren, weiter und weiter und weiter.
Ich will, dass du mich bei meinem Namen nennst, Großvater, dass du dich erinnerst. Denn du hast mich Sabinchen gerufen. Sabine – wie ich diesen Namen gehasst habe! Und dann noch diese Koseform: Sabinchen! Nein, ich konnte mich nicht daran gewöhnen, dass du mich so genannt hast, ich wollte es nicht, bis zuletzt nicht.
Aber vielleicht hast du dich ja auch nicht an meinen Namen gewöhnen wollen, meinen richtigen. Denn dieser Name ist – was die wenigsten in der BRD wissen – vor allem ein russischer: Lena, mit kurzem e und hartem a. So, wie früher auch bei den Stemmers die Mädchen genannt wurden.
Mit Russland wolltest du nichts zu tun haben. Du hast in deinem Westen gehockt, da, wo er am westlichsten war und es keine Rolle spielte, dass die Welt in zwei Hälften geteilt war und sich Russland in der anderen, der unerreichbaren befand.
Hast in deinem Dortmund gehockt und Reden gehalten, für den Aufschwung und gegen den Kommunismus. Keine zehn Pferde, hast du gesagt, bringen mich nach Russland. Als du eingeladen wurdest von einer Delegation, Deutsch-russische Kulturgesellschaft, hast du einen Bandscheibenvorfall bekommen. Oder vorgetäuscht.
Nicht nur du – niemand wollte bei uns etwas mit diesem Russland zu tun haben. Außer mir. Und auch ich bin da eher zufällig drangeraten: eine Dienstreise, noch eine Dienstreise, dann der Job. Damals dachte ich: egal, wo sie dich hinschicken – Hauptsache, du kriegst diesen Job. Heute denke ich, es ging nicht so sehr um den Job, der im übrigen schnell wieder weg war. Es ging um Russland.
Meine Güte, wie das klingt, wenn ich das sage: Es ging um Russland! Hörst du? Fast wie eine politische Rede, und damit kennst du dich ja aus! Genauer gesagt: eine Kriegsrede, gehalten von einem Kaiser oder Kanzler oder sonst einem Großkopferten, der keine Ahnung hat, aber zu viel Testosteron.
Die Großkopferten: so hat Hermann sie genannt – du weißt, der andere Großvater aus Bayern – und dieses Wort ist bei mir geblieben, trotz der Jahre an der Universität, die einen ja eigentlich, wie es so schön heißt, befähigen sollen, die Dinge differenziert zu betrachten. Aber was heißt das schon in diesem Zusammenhang: differenziert?
Es heißt: du sollst nicht schlecht reden über die Großkopferten – selbst, wenn sie die Welt in zwei Teile zerreißen und du sitzt in dem einen und du wirst krank vor Sehnsucht nach dem anderen. Da sitzt du dann rum, ängstlich, weil dein Herz stottert und deine Stimme brüchig klingt, und sie zeigen mit dem Finger auf dich und fragen streng: Was tragen Sie eigentlich zum Bruttosozialprodukt bei?
So, wie es mit deinem Vater geschehen ist.
Wir hätten eine glückliche Familie sein können, wir, die Stemmers aus Dortmund-Hörde, die Sprache verehrt haben wie andere Leute Maria oder den Dalai Lama oder ihren Mercedes Strich 8 Baujahr 1970 – und ich hätte ich eine der Glücklichsten sein können. Ich, Lena Stemmer, Jahrgang 1970, aufgewachsen in den besten Jahren der B-R-D, wie dieses Land bei uns nur genannt wurde, mit den besten Voraussetzungen für das Glück. Das kleine Glück, das in diesen Jahren so selbstverständlich erschien wie das Ein- und das Ausatmen.
Aber so zerbröselte dieses scheinbare Glück vor meinen Augen, und ich konnte nicht sagen wieso. Ich fand keine Erklärung in der Gegenwart. Und so mir blieb nicht anderes übrig, als mich umzudrehen und mich in die Vergangenheit zu begeben. Die Vergangenheit der Stemmers, die ich nicht kannte, obwohl sie doch auch meine war, und dabei betrachtete ich die Familie, als wären sie Fremde.
Aus der Ferne sah ich, welches Unglück sie auf den Schultern trugen, die wortgläubigen Stemmers, die keine Worte hatten für dieses Unglück. In Russland kamen die Worte schließlich zu mir zurück, in einem Dorf, das – wenn du es sehen könntest …ach, vielleicht könntest du dann zur Ruhe kommen und uns loslassen. Mich loslassen, damit ich mein eigenes Leben leben kann.
Doch jetzt halt erst einmal fest; lass dich von mir in die Vergangenheit führen. Lass mich dir erzählen, was du nicht erzählen konntest. Lass dich mitnehmen, an diesen Ort, an dem alles begann.
Großvater, nimm meine Hand, damit ich dort nicht mehr alleine bin. Und hör mir zu.