Wie wir lernten, das Atom zu lieben
Verlag Eichborn/ Lübbe, Köln
Klappentext
Merle Hilbks faszinierende Reportage über ihre Reisen durch die Tschernobyl-Region. 2009 und 2010 reist sie mehrere Monate durch die verstrahlten Gebiete in Weißrussland und der Ukraine, bis hin zum Reaktor. In der Sperrzone trifft sie alte Frauen, die heimlich in ihre Dörfer zurückkehrten und teilt den Alltag von Kriegsflüchtlingen aus Zentralasien, die sich dort angesiedelt haben. Mit dabei ist Mascha, ihre 1986 in der Nähe von Tschernobyl geborene weißrussische Freundin. Sie gehört zur Generation der Tschernobyl-Babys, die in den 90er Jahren zur Erholung bei deutschen Gastfamilien waren und die ihren ganz eigenen Blick auf die Katastrophe haben.
Textauszug
1. Tschernobyl Cruising
September 2009, Tschernobyl-Sperrzone, Ukraine
„Hey, was sagst du? Der Kampf? Nein, hat noch nicht angefangen. Diese verdammten Ukrainer lassen sich wie immer Zeit mit der Kontrolle!“
Der Bodybuilder, der uns noch kurz vor dem Schlagbaum überholt hat, streicht nervös um das Wachhäuschen. An seinem Ohr klebt ein Headset, in das er auf Slowakisch hineinschimpft: „Verdammt, red’ lauter, Blanka! Der Empfang ist … Hey, ich muss auflegen! Die machen die Schranke auf.“
Er springt in seinen Skoda, lässt den Motor aufheulen. Death Metal donnert aus dem Fenster. Auf der Hutablage blinkt etwas, das wie ein Sturmgewehr aussieht.
„Paintball“, sagt Jewgenij. „Das ist hier ein beliebtes Trainingsgelände.“
Das Trainingsgelände des Slowaken ist ein 30 mal 30 Kilometer großes Areal im Norden der Ukraine, das wie ein eigener Staat gesichert ist, mit Zäunen, Schlagbäumen und Soldaten, die rund um die Uhr Wache halten. Eigentlich sollen sie aufpassen, dass niemand dieses Areal betritt, der dort nicht etwas Wichtiges zu erledigen hat, einen Waldbrand löschen beispielsweise, die Brücke über den Pripjat reparieren oder Plünderer jagen, die Metall und Baumaterialien herausschaffen, um sie auf dem Schwarzmarkt in Kiew zu verkaufen. Eigentlich.
Denn dieses Areal birgt eine Gefahr, die weder sicht- noch hör- oder tastbar ist, eine Bedrohung, die sich den Sinnen verschließt. Die niemand wahrnehmen würde, wenn nicht die Schilder an den Straßenrändern stünden, die mit leuchtendroten Buchstaben warnen: Wnimanije! Radiazionnaja Opastnost! „Achtung! Radioaktive Gefahr!“ <Abbildung Choiniki Sperrzone 2>
Zäune und Schlagbäume riegeln dieses Areal vom Rest der Welt ab, diese Sperrzone, die einen der mythischen Orte der Neuzeit birgt: den Reaktor Nummer 4.
Die „Tschernobyl-Sperrzone“ wurde 1986 eingerichtet, als Sicherheitsmaßnahme, nachdem am 26. April der vierte Block des Atomkraftwerkes Tschernobyl plötzlich und unerwartet havariert war, Radioaktivität von mehr als 100 Hiroshima-Bomben freisetzte, Dörfer verstrahlte, Städte, Felder und Wälder. Hunderttausende wurden krank, starben oder wurden ausgesiedelt, darunter die Einwohner der neben dem Kraftwerk errichteten Stadt Pripjat. Häuser wurden niedergewalzt und Brunnen verplombt, Tausende von Fahrzeugen, Maschinen und Hubschrauber, die in den Tagen nach der Havarie im Einsatz waren, auf extra eingerichteten Autofriedhöfen begraben.
Dann erklärte man das Gelände in einem Radius von 30 Kilometern um den Reaktor zur Sperrzone, zäunte es ein und unterstellte es einer speziellen Zonen-Behörde.
Solange die Sowjetunion existierte und wichtige Entscheidungen in Moskau getroffen wurden, herrschte Einigkeit darüber, wer sich in dieser Sperrzone aufhalten sollte: Menschen, die ihre Gesundheit im Dienst der Allgemeinheit riskierten; zum Beispiel die Kraftwerksarbeiter, die die restlichen drei Reaktorblöcke in Betrieb halten, Fahrer, die Arbeiter in die Zone hineinbefördern, Köchinnen und Verkäuferinnen, die sie mit dem Notwendigsten versorgen sollten, Liquidatoren, die die Zone dekontaminieren, und schließlich ein paar Biologen, die die Veränderungen an Flora und Fauna beobachten sollten.
Als der Unionsvertrag 1991 aufgelöst wurde und die Sowjetunion zerfiel, lag die Sperrzone auf einmal auf dem Territorium zweier Staaten, die sich in entgegengesetzte Richtungen entwickelten: Die Ukraine strebte Richtung Westen und Marktwirtschaft, Belarus wurde zu einer autokratischen, Russland treuen Planwirtschaft, zu einer Sowjetunion en miniature mit Kolchosen, KGB und all den pathetischen, Heimat verherrlichenden Spruchbändern, die schon vor der Perestroika die Straßen geziert hatten: „Blühe, mein Heimatkreis!“ „Die Natur ist unser Dom!“ „Für das Volk! Für die Heimat!“
Eine Entwicklung, die sich auch im Umgang mit den Sperrzonen niederschlug: Während die Belarussen ihre Hälfte auf den Namen „Radioökologisches Schutzgebiet“ tauften, von der „europaweit einzigartigen Fauna“ dort schwärmten und alles taten, das hässliche Wort radiazija („Radioaktivität“) vergessen zu machen, entdeckte die Ukraine das Marktpotenzial, das in ihrem Teil der Sperrzone schlummerte, und die Faszination, die der havarierte Reaktor auf diejenigen ausübte, die die Katastrophe selbst nur aus dem Fernsehen kannten – und heute viele Dollar für einen Blick darauf locker machen würden.
Eine staatliche Agentur wurde in der Ukraine gegründet, deren Mitarbeiter dafür sorgen sollten, dass Zonentouristen nur an Plätze geführt wurden, an denen sie keine Gefahr liefen, ohne Haare, mit Hautausschlägen oder impotent zurückzukehren. Sie sollten das Risiko für die Besucher überschaubar halten, Mittagessen, Hotelübernachtungen und Andenken in der Zone verkaufen und schließlich sogar mit privaten Reisebüros kooperieren, die All-Inclusive-Pakete für westliche Reisegruppen organisierten: Flug nach Kiew, Shoppingtour in der City, Ausflug zum Reaktor mit Dolmetscher und Vollverpflegung.
Meine Zonentour wurde – berufsgerecht – von „Pripyat.com“ organisiert, der Zonen-Website eines Graphikdesigners, der als Kind aus Pripjat, der Stadt neben dem Kraftwerk, ausgesiedelt wurde und später sowohl an den Strahlenfolgen als auch an Heimweh litt. In Foren berichten Umsiedler über ihr Leben vor der Havarie, Journalisten, zumeist aus dem Westen, beschreiben die politischen, sozialen und medizinischen Folgen der Katastrophe, und Blogger posten ihre neusten Erlebnisse in der Zone. “Pripyat.com“ zieht auch Leute an, die nicht gerade als klassische Tschernobyl-Zielgruppe anzusehen sind: amerikanische Twens, deutsche Politikstudenten, ukrainische Computer-Nerds. Und die sich quasi ehrenamtlich daran machen, die Geschichte der Katastrophe für die Nachgeborenen aufzubereiten: dreisprachig, mit einem lockeren Blogger-Duktus und einem Design, das mit seinen ästhetischen Hochhausfotos und Techno-Flyer-Logos ein bisschen an britische Pop-Magazine erinnert, ein bisschen auch an das deutsche Neon. Wie die Anzeigen von Lebensversicherungen, Angstlöser-Globuli und Suchbörsen für verlorene Freunde andeuten, lässt sich die Seite anscheinend gut über Werbung finanzieren. Tschernobyl für die Generation Web 2.0.
Jewgenij heißt der „Pripyat.com“-Fahrer, der mich in die Zone bringt. Der Gamedesigner gestaltet hauptberuflich den Verkaufsschlager „S.T.A.L.K.E.R – Shadow of Chernobyl“, ein Ego-Shooter-Spiel, in dem Überlebende in der Sperrzone gegen Mutanten kämpfen müssen. Früher habe er sich überhaupt nicht für Tschernobyl interessiert, erzählt Jewgenij, während er seinen Polo neben dem Schlagbaum parkt. Aber dann sei er, um die Spielumgebung möglichst realistisch zu gestalten, zur Recherche in die Zone gefahren – und seither süchtig nach ihrer morbiden Schönheit. Deshalb sei dieser Fahrerjob für ihn auch mehr als nur ein finanzielles Zubrot.
Was er genau für ihn ist, kann ich nicht in Erfahrung bringen, denn Jewgenij behauptet zwar, Russisch zu sprechen, aber nuschelt die ganze Zeit auf Ukrainisch vor sich hin. Und der mitreisende Dolmetscher, der mir diese doch sehr fremde Sprache erschließen soll, ist eingenickt. Außerdem ist er selbst Ausländer, ein Bulgare, der in der Ukraine eine Spionageausbildung genossen und dabei einige Fremdsprachen gelernt haben soll. Ein Mann ohne Alternativen – den einheimischen Dolmetschern hatten ihre Ehefrauen den Job in der Zone ausgeredet, aus Angst um ihre Zeugungsfähigkeit.
Ein paar Kilometer hinter dem ersten Schlagbaum steigt noch ein dritter Mann zu uns in den Polo: Sergej, der Führer der staatlichen „Tschernobyl Interinform Agentur“, die ihren Sitz in Tschernobyl hat, der Stadt, die dem Reaktor den Namen gab, obwohl eine andere näher daran lag. In Tschernobyl leben heute immer noch Menschen – mitten in der Zone.
So stehen wir Zonenfahrer an einem brütendheißen Septembermorgen in einer Schlange vor dem Schlagbaum I, zwischen einem slowakischer Paintballer und einem norwegischen Militärfan, der auf Englisch von gekaperten deutschen Panzern in der Zone schwärmt, und reichen unsere Papiere dem Mann in Uniform, der von einem Spitzdach-Wachhäuschen aus die elektronische Schranke bedient: Reisepässe, eine mit vielen Dollars erkaufte Zoneneinfahrtsgenehmigung und das von der Zonenverwaltung abgesegnete Programm – das von einem Fototermin am Reaktor Nummer 4 bis hin zu einem Besuch der wiedereröffneten orthodoxen Kirche reicht.
An der Schranke lehnt ein zweiter Uniformträger. Er deutet mit einer Marlboro zwischen den Fingern auf den Slowaken, der gerade mit seinem Skoda in einer Staubwolke verschwindet. „Durak“, zischt er, „Dummkopf! Tanzt hier ständig an zum Kriegspielen!“
Ich lache, mein T-Shirt ist verschwitzt. Der zweite Wachmann ist jung, grinst mich an. „I wish you … good time … in our Chernobyl Zone“, sagt er in stotterigem Englisch, legt die Hand zum Gruß an die Mütze und nimmt Haltung an. Und dann ist plötzlich der Schlagbaum auf.
Wir fahren über eine lange Straße, die kilometerlang wie mit dem Lineal gezogen geradeaus führt. Dann lichtet sich der Wald an den Straßenrändern, der Blick weitet sich. Wir sehen den Pripjat, der sich in großen Schwüngen durch eine sonnige Ebene schlängelt. In den Flusskehren haben Biber Dämme gebaut, die das Wasser in kleinen, gurgelnden Strömen aus dem Bett drängen. Wiesen mit knietiefem Gras dehnen sich bis zum Horizont. Die Luft riecht nach Sommer, nach Früchten, Pilzen, trockenem Holz. Es ist still, eine betörende Stille, die jeden Gedanken aus dem Kopf vertreibt, als wäre diese Reise eine Übung in Zen-Meditation.
Im Stadtzentrum von Tschernobyl stoppt der Gamedesigner vor einem Steinhaus, das hinter Hagebuttenbüschen verborgen an einem Sandweg liegt: die Zonenverwaltung, wie ein Schild an der Außenfassade verrät. Zwei Huskys springen uns kläffend entgegen, aber rollen sich, als wir die Autotüren öffnen, ergeben auf den Rücken. Wir knien uns in den Sand von Tschernobyl und kraulen Hundebäuche. Im Hauseingang erscheint ein breitschultriger Mann im Jeansanzug und ruft uns zu: „Einen Wodka vor dem Abflug, Genossen?“
Zum Glück einigen wir uns auf ein Wasser und eine kurze Führung durch die „ständige Zonenausstellung“, ein Zimmer mit Verstrahlungskarten, historischen Fotos der Stadt Pripjat und einem ebenso historischen „Körpermesser“, einer Maschine, auf die man aufsteigt wie auf eine dieser alten Kaufhauswaagen, die Hände auf die Seitengriffe legt, und wartet, welches Licht auf der Anzeige aufleuchtet. Grün steht für einen unverstrahlten Körper, Rot für das Gegenteil, in verschiedenen Abstufungen. Wir liegen alle im grünen Bereich. „Noch!“, raune ich dem Dolmetscher zu.
„Das wird auch so bleiben, wenn ihr mir folgt!“, sagt Sergej, der Mann im Jeansanzug, der in den nächsten Stunden unser staatlich bestellter Führer sein wird. „Ich bin für eure Sicherheit zuständig.“
„So haben das die Sowjets auch immer genannt, wenn sie einen unter Kontrolle …“, unke ich. „Vergiss die Sowjets“, sagt Sergej, „ich bin nur der Mann mit dem Geigerzähler!“ Und pfeift anerkennend durch die Zähne, als er den sieht, den ich mit mir herumtrage. „Uch ty, unglaublich, ein neuer Kugelfischer! Tja, meine Kiste stammt wahrscheinlich noch aus Sowjetzeiten.“
Zehn Minuten später piepst dieser Kugelfischer im Auto plötzlich so schrill, dass der Ton den russischen Billigtechno aus dem Autoradio übertönt. „Rebjata, Kinder!“, ruft Sergej. „Da vorn beginnt die Zehn-Kilometer-Zone. Jetzt wird es ernst!“
Noch einmal passieren wir eine Grenze, die dieses Mal nur durch eine kleine, von Hand betriebene Schranke gesichert ist. In Zeitlupe schlurft ein Wachmann aus seiner Baracke, wirft einen kurzen Blick auf unsere Genehmigungsscheine, die ihm Sergej aus dem Fenster reicht, und nickt dann kaum merklich.
„Passt gut auf, Jungs!“, spottet Sergej. „Dass mir hier nicht wieder einer so einen Viertonner mit Metall rausschmuggelt!“
„Ach, da kann man aufpassen wie man will“, klagt der Wachmann. „Diese Altmetall-Mafia findet überall ein Schlupfloch. Inzwischen reisen sie sogar aus dem Ausland an, um hier das Zeug zu holen!“
„Und was machen sie mit dem Zeug?“, fragt der Dolmetscher.
„In Kiew hat man ganze Datschensiedlungen damit gebaut“, sagt Sergej. „Und neulich hab ich von einer Kolchose gehört, die sich das Dach für ihren Kuhstall aus der Zone organisiert hat.“
Unsere erste offizielle Ausflugsetappe liegt in einem kleinen Waldstück: ein Haus mit Säulen vor dem Eingang und einer himmelblauen Tür – einst der bestens ausgestattete Werkskindergarten, nun baufällig und von Moos überwuchert.
Im Hausflur ist ein Ahorn mit fleckigen Blättern durch den Fußboden gewachsen. Darunter liegt ein Zeichenheft mit halb ausgemalten Pilzen, braune Stiele und rote Kappen, ein Dreirad ohne Räder, umgestürzte Holzbänke. Im zweiten Raum steht ein Dutzend Stockbetten mit fleckigen Matratzen, darauf türmen sich Kissen, Stofftiere und Puppen, die zurückgelassen werden mussten, weil sie verstrahlt waren.
Alles ist von einer grauen Staubschicht überzogen; ein zäher, klebriger Staub, der wie Mehltau an der Oberfläche hängt. Ich hebe eine Puppe hoch, puste ein bisschen. „Njet!“, brüllt Sergej. „Der Staub ist voll mit Strontium!“ Unsere Geigerzähler piepsen im Chor, dreieinhalb Millisievert pro Stunde. Das entspricht etwa der natürlichen Strahlenbelastung eines Deutschen im ganzen Jahr! Der Dolmetscher flüchtet sich schwer atmend ins Freie. Sergej drängt hinterher und lacht.
Plötzlich schiebt er sich ins Bild, der legendäre Reaktor Nummer 4: Ein schmutzigweißes, kastenförmiges Gebäude mit Blechdach und einem Turm, der wie eine Raketenabschussrampe in den Himmel ragt. Havariert sieht er eigentlich nicht aus. Nur verrostet. Und ist ummantelt von einem Sarkophag, für dessen Bau Hunderttausende von Männern ihr Leben riskierten. Über das Metalldach ziehen sich riesige, braunrote Placken, Rost hat sich an der Fassade festgefressen, und an den Baugerüsten, die an der Rückseite hängen – wahrscheinlich für Ausbesserungsarbeiten.
Rohre, die sich in unorthodoxen Formationen über das Werksgelände schlängeln, sind mit Folie abgeklebt, geklammert, notdürftig geschweißt. Von der Halle ragen Hochspannungsmasten in den Himmel. Die Spitzen sind abgeknickt. Leitungskabel schwingen im Wind. Die Luft ist erfüllt von einem Zischen, dazu das Brummen des Motors und das hohe, rhythmische Fiepen der Geigerzähler – ein Sound, der mich an meinen Lieblingssong von Kraftwerk erinnert. Der mir nun, mit dem Kopfhörer auf den Ohren, das versinnlicht, was sich sonst den Sinnen entzieht: Radioaktivität.
Vor der Einfahrt zum Werksgelände steigen wir aus. Auf der rechten Seite, eingerahmt von Blumenrabatten, liegen die Verwaltungsgebäude, zweistöckige Plattenbauten, vor denen ein Trupp Arbeiter in Blaumännern aus dem Bus steigt. „Mittagszeit“, sagt Sergej, „die gehen in die Kantine.“
Knapp 3.000 arbeiten noch in der Zone, ein Großteil von ihnen auf dem Kraftwerksgelände, auf dem sechs Reaktorblöcke stehen. Erst 2000 wurde der letzte Block abgeschaltet, bis zu diesem Zeitpunkt gab es im Kraftwerk noch 9.000 Arbeitsplätze. Gefragte Arbeitsplätze, denn die Bezahlung war gut, und es gab doppelt so viele Urlaubstage wie in anderen Kraftwerken.
Aber auch jetzt gibt es anscheinend immer noch genug zu überwachen, zu flicken, in Stand zu halten – die Hecken an der Werkseinfahrt sind geschnitten, die Blumenrabatten frisch bepflanzt. Es wirkt, als ob die Zeit am 25. April 1986 stehen geblieben wäre.
Die Sonne brennt vom Himmel, es ist so heiß, dass sich das Mineralwasser in unseren Plastikflaschen auf Espressotemperatur aufgeheizt hat. Trotzdem wagt keiner von uns, seine Jacke auszuziehen – jeder Zonenfahrer muss die sogenannte „Sicherheitsunterweisungserklärung“ unterschreiben, mit der er sich verpflichtet, „den Körper aus Sicherheitsgründen während des gesamten Aufenthaltes komplett bedeckt zu halten“.
Schwitzend balancieren wir über die schmale Eisenbrücke, die den Kanal überspannt, der sich um den Reaktorkomplex zieht – der Kanal, in den früher das Kühlwasser eingeleitet wurde. Auch das von Reaktor Nummer 4. In der Mitte dieser Brücke wirft sich ein langbeiniges Wesen in Positur, um sich von einem jungen Mann mit lustlosem Blick fotografieren zu lassen. Sie trägt: fast nichts. Einen handbreiten Minirock, ein Top mit bauchnabeltiefem Ausschnitt und Pumps, die so offen sind, dass der Staub von allen Seiten hereinquillen kann. Der Strontium-Staub.
„Was ist das denn das für eine?“, fragt der bulgarische Dolmetscher.
„Eine Geliebte des Direktors“, sagt Sergej. „Die lassen sich immer in der Zone fotografieren, wenn sie sich langweilen.“
„Wofür fotografieren? Für ein Magazin?“
„Privat, zum Angeben. Nach Paris kann doch inzwischen jeder fahren!“
„Kein Scherz?“
„Hey, was denkst du von mir? Ich bin Staatsangestellter!“
Mit einem Jackenärmel wischt sich Sergej den Schweiß aus dem Gesicht. Dann drückt er jedem von uns ein Graubrot in die Hand: „Fische füttern, Genossen! Dawaj!“
Der Dolmetscher reißt kleine Bröckchen von seinem Brot ab und lässt sie ins Wasser hinuntersegeln. Sergej reißt ihm den Laib aus der Hand und schleudert ihn über die Brüstung. Ein paar Sekunden später gerät das Wasser in Bewegung, bildet einen großen Strudel, aus deren Mitte sich ein Maul in die Höhe reckt, ein Monstermaul mit spitzen Zähnen und Barthaaren – und das ganze Brot auf einmal schluckt.
Auch der Gamedesigner lässt ein Brot ins Wasser platschen. Fünf, sechs gewaltige Fischkörper bewegen sich im Zeitlupentempo darauf zu. Dann recken sich Schlunde ein Stück aus dem Wasser und schnappen zu. Ein Bild, das mir bekannt vorkommt – natürlich: YouTube. Ein Russe hat dort letztens ein Video eingestellt: Der Mutantenfisch! Drehort: Tschernobyl.
„Wir haben hier die dicksten Fische Europas“, sagt Sergej. „Oder habt ihr woanders schon mal einen Drei-Meter-Wels gesehen?“
Wir fahren weiter, ein paar Hundert Meter im Schritttempo an der Kraftwerksmauer entlang. An der Rückseite von Reaktor Nummer 4 hat jemand ein Denkmal errichtet: eine Faust aus Granit, die ein Haus umschlossen hält, aus dem ein Blitz in den Himmel schießt. Am Sockel des Denkmals, unter der Faust, prangen fünf Gedenktafeln, die an die „Helden erinnern, die ihr Leben in Ausübung ihres Dienstes geopfert“ haben.
Das Denkmal liegt auf einer Blickachse mit dem Reaktor, der hier zum Greifen nahe ist. Nur ein Mäuerchen, durchbrochen von einem Gittertor, trennt den Parkplatz vor dem Denkmal vom havarierten Block. Ein perfekter Ausflugsspot, vor allem aber eine 1 a Fotokulisse, weswegen hier auch der erste Kleinbus stoppt, dem eine Gruppe mit teuren Kameras entsteigt.
Die Bustouristen tragen gepolsterte Jacken, Springerstiefel und Fahrtenmesser am Gürtel, stellen sich in Positur, breitbeinig und mit entschlossenem Blick, als müssten sie zum Spaten greifen und die Graphitbrocken vom Dach des Reaktors schaufeln. Die vermeintlichen Special Forces aus dem Westen spielen sich auf wie Helden, nur weil sie sich bis zum Reaktor vorgewagt haben.
Dabei ist ein Besuch am Reaktor wie ein Besuch im Regierungspräsidium Karlsruhe: unspektakulär. Man unterhält sich kurz über die Architektur – ein bisschen Industriemoderne, ein bisschen Verfall – nichts, was im Gedächtnis bliebe. Und zündet sich dann eine Zigarette an. Das Einzige, was zwischen den Rauchkringeln ins Auge sticht, sind die Tauben, die um den Reaktor flattern und plötzlich irgendwo in seinem Innern zu verschwinden scheinen. Alles Spektakuläre ist Fantasieproduktion, mythische Aufladung. Eine Kopfgeburt.
In meiner Vorstellung war dieser Ort seit 1986 immer eine Kulisse aus einer anderen Welt gewesen, ein bisschen Blade Runner, ein bisschen I am Legend, eine apokalyptische Filmwelt irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang. 2003 sah ich dann die ersten Werbeanzeigen für „All-Inclusive-Zonentouren“, und der Reaktor verwandelte sich in meinem Kopf in ein Touristenparadies, ein ukrainisches Neuschwanstein, in dem nur noch die Souvenirläden fehlten, die Aschenbecher in Reaktorform oder Eieruhren im Geigerzähler-Design feilboten.
Die Realität heute ist: eine Industrieruine in the middle of nowhere, profan, hässlich, unspektakulär. Eine Enttäuschung – und gleichzeitig eine Erleichterung. Die Entmystifizierung von Tschernobyl.
Und wieder bremst ein Auto neben dem Reaktor. Der Chauffeur steigt aus, tritt an die Hintertür, öffnet sie mit weit ausladender Geste und bietet jemandem auf dem Rücksitz seinen Arm als Aussteigehilfe. Der Jemand trägt sehr hohe Schuhe und einen sehr kurzen Rock. Die Geliebte des Direktors hat uns eingeholt.
Neben dem Denkmal geht sie in die Hocke, streicht sich über die Beine – wahrscheinlich eine Rasurkontrolle –, kramt einen Lippenstift und einen kleinen Spiegel aus der Handtasche, zieht sich die Lippen nach und macht einen Kussmund. Der Fahrer knipst. Die Geliebte schüttelt im Sitzen ihre Haare auf, wirft Kusshände in Richtung Reaktor, der Fahrer knipst weiter, eine ganze Reaktor-Kuss-Serie. Der bulgarische Dolmetscher knipst mit, wahrscheinlich aus anderen Motiven. „Durotschka“, murmelt er dabei, dieses Mal auf Russisch, „dumme Nuss! Lässt sich fröhlich die Muschi verstrahlen!“
„Wenn die Herrschaften einen Blick auf den Geigerzähler werfen mögen …“, mahnt plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund: Sergej, der sich zwischendurch ins Auto verdrückt hatte. „Bei acht Millisievert würde ich meinen Fantasien lieber nicht allzu lange nachhängen.“