Chaussee der Enthusiasten

Eine Reise durch das Russische Deutschland
Aufbau Verlag, Berlin

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Klappentext

3,5 Millionen Menschen kamen in den 90er Jahren aus Russland nach Deutschland, geleitet durch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Seither hat sich eine vielfältige und lebendige Szene aus russischen Schulen, Vereinen, Anwaltskanzleien, Supermärkten und Diskos gebildet, in der es eigene Sitten und Regeln und sogar ein eigenes Idiom gibt, das „Russki Deutsch“. Merle Hilbk hat sich auf den Weg gemacht, um den wilden Osten mitten unter uns zu finden. Ob Datscha-Party, traditioneller Bardenklub oder Landsmannschaft – dieses Buch zeigt alle Facetten des neuen deutsch russischen Lebens: abenteuerlich, berührend und brillant geschrieben.

Textauszug

Auszug Schlusskapitel:

Die Russen sind weg!

Wir fahren mit dem Auto durch lange, schattige Alleen. Das Korn ist reif, gelb leuchten die Rapsfelder. Am Horizont: ein Kirchturm, Windräder, die sich rasend schnell drehen. Der Himmel ist blassblau. Ein ganz anderer Sommer als der im Rheinland: Zarter, unaufdringlicher. Beinahe melancholisch.
Ich lege ein altes, russisches Mix-Tape in den Kassettenrekorder des Autos. Passt zu unserem Ausflugsziel, denke ich, als ich das erste Lied höre: „Dam prekas jemu na sapad,“ ich erteile den Befehl, in den Westen zu ziehen,“ ein altes russisches Soldatenlied, das ein Barde neu eingespielt hat, mit Hammond-Orgel und den Gitarrenriffs von Deep Purple’s „Smoke on the water.“
Wir erreichen Wittstock, die Kreisstadt des Bezirks Ostprignitz mit ihren frisch  sanierten Fachwerkhäusern und einem Gewerbegebiet an der Autobahn, das vor allem Baumärkten zu bieten hat und eine Mac Donald-Filiale, in der eine Familie gerade mit Pommes und Cheesburgern einen Kindergeburtstag feiert.

20 Prozent der Wittstocker sind arbeitslos. Nach der offiziellen Statistik. Inoffiziell sollen es weitaus mehr sein. Zahlen, die das Gesicht der Stadt prägen: Die Viertel außerhalb der Innenstadt sind grau, schmucklos. Die Gardinen an den meisten Fenstern sind zugezogen, die Straßen ausgestorben. Ich sehe weder Cafes noch Geschäfte, nur eine Videothek mit blauer Leuchtreklame und einen Penny Markt, vor dem sich eine Gruppe Männer mit Bierflaschen versammelt hat.
Es ist, als sollte man vorbereitet werden, Stück für Stück, Etappe für Etappe auf den Anblick einer vollständig dem Verfall preisgegebenen, einer untergegangenen Welt.
Wir biegen von der Landstraße ab auf eine schmale, geteerte Piste, passieren ein Schild „Militärischer Bereich. Betreten verboten,“ und dann sehen wir die Hausgerippe, die in Wiesen mit braunen, struppigen Gräsern darauf warten, dass sie von der Natur endgültig überwuchert werden.
An einem langgestreckten, flachen Bau aus Backstein, der einst als Lagerhalle gedient haben muss, stellen wir das Auto ab. Im Innern des Gebäudes: Mülltüten, Tapetenreste, eine tote Maus. Auf der Wand neben dem Ausgang prangt ein Graffiti: „Keine Macht für niemand.“
Im Kulturhaus, ein paar Hundert Meter weiter neben den Flugzeug-Hangars, finden wir ein zweites, das jemand in meterhohen Buchstaben auf die braune Tapete des Kulturhauses gesprüht hat: „Fuck Hitler.“

Ich weiß noch, wie ein Bruder meines Urgroßvaters, der seine Kindheit an der Wolga verbracht hatte, mir ein Foto gezeigt hatte, eine Schwarz-Weiß-Aufnahme einer  Kritzelei auf der verkohlten Fassade des Reichstages: „Fuck Hitler!“
Ich war noch sehr jung, Fremdsprachen standen erst ab der fünften Klasse auf dem Stundenplan, und mit den F- Worten waren wir wohl damals auch nicht so früh vertraut. Jedenfalls brauchte ich eine ganze Weile, um zu verstehen, was dieser Satz bedeutete – so wie es jetzt, zwischen den Ruinen der Russensiedlung von Alt-Daber, eine Zeit lang dauerte, bis mir klar wurde, dass dieser Satz der Schlüsselsatz zum Verstehen des russischen Deutschlands war.
Ich versuchte, mir vorzustellen, was dem Sprayer wohl durch den Kopf gegangen war, als er dieses Graffiti an die Wand des Kulturhauses sprühte: Wir haben es euch gezeigt, ihr deutschen Faschisten? Oder auch: was ihr zu unserer Vernichtung gebaut hat, dient nun zur Erbauung unserer Soldaten!
Denn das Kulturhaus, die ganze Airbase Alt-Daber wurde einst nämlich nicht von den Russen, sondern von den Nationalsozialisten errichtet, die hier, in der Abgeschiedenheit Brandenburgs, ihre Fallschirmjäger auf den Endkampf vorbereiten wollten. Und 1944 von hier aus in den Osten starteten, zur  – nicht sehr erfolgreichen – Offensive gegen die sowjetische Armee.
Denn die übernahm bereits ein Jahr später die Airbase – und baute sie zu einer Garnisonsstadt aus. In der ehemaligen Versammlungshalle der Nazis ließen sie russische Sänger und Schauspieler auftreten, die Schulungsräume der Piloten wurden zu einem Supermarkt umfunktioniert, die Verwaltungsgebäude zu Büros.
In einem hängt noch eine sowjetische Weltkarte. Eine Karte, deren Papier genau zwischen Russland und Deutschland gerissen ist.

Stück für Stück tasten wir uns ins Gelände vor, klettern über Steinhaufen, kämpfen uns durch Büsche, Brenneseln und kniehohes Gras, stoßen Türen mit eingerosteten Scharnieren auf, steigen Treppen hinauf, inspizieren Zimmer und Säle, treten wieder ins Freie, sehen Backsteinbögen, Säulen, rechtwinklige Tordurchfahrten, die den Blick auf ebenso rechtwinklige Gebäude freigeben.
Es ist eine Architektur der Ehrfurcht, die uns da selbst im Zerfall noch erdrückt.
Wenn ich nicht gelesen hätte, dass diese Gebäude von den Nationalsozialisten geplant wurden – ich hätte sie für stalinistisch gehalten.
Aber die Unterschiede verwischen sich ohnehin in Alt-Daber. Die Inschriften an den Eingängen der einstigen deutschen Fallschirmspringerschule sind kyrillisch, der Putz an den Wänden blaugrün wie in russischen Häusern.
Und die Natur, die sich das Gelände Meter für Meter zurückerobert – Birken, Fichten, Gras, das zwischen den Pflastersteinen hindurchwuchert – ein typisch deutscher Brachenbewuchs ist das nicht. Zu struppig sind die Gräser, zu kräftig die Birken. Zu wild verbreiten sich Gräser und Bäume. Nein, es ist etwas seltsam Russisches an dieser Natur. „Wie früher bei uns zu Hause,“ sagt Mischa, dem ich per Handy ein paar Fotos schicke. Und dass er ganz nostalgisch würde, wenn er diese Fotos ansähe.
Und ein deutscher Kollege aus Dresden schimpft: „Ich hab’s ja immer schon gesagt: Die russischen Zuwanderer, die in den letzten Jahren gekommen sind,  wären im Osten besser aufgehoben. Die Orte und die Menschen wären ihnen längst nicht so fremd. Aber die Russen träumen ja alle vom Westen – wie, na ja – wie wir das damals auch getan haben.“

„Hör sofort auf zu telefonieren!“ befiehlt der Pressesprecher. „Das folgende Gebäude musst du andächtig betreten!“ Dann hebt er grinsend die Hand zum Pioniersgruß.
„Bereit?“
Ich nehme Haltung an, rufe „Allzeit bereit,“ und dann öffnet er das Tor der Sporthalle, die doppelt so groß ist wie eine durchschnittliche deutsche Turnhalle. Doch trotz ihrer Dimensionen ist die Russen-Sporthalle kein Ort mehr für sowjetische Großmachtsgefühle: Der Holzfußboden ist aufgerissen, die Basketballkörbe von der Wand gebrochen, die Wand über den Schießscheiben von Kugeln durchlöchert.
An der Stirnseite hat einmal ein Banner geprangt, eine metergroße, auf Sperrholz gepinselte Europakarte, überspannt von Hammer und Sichel, darunter die Flaggen Russlands und der Unionsrepubliken. Jetzt liegt das Banner am Boden, in Teile zersplittert, verblasst. Aus der Karte sind Hammer und Sichel herausgebröselt, als habe sich die Brüchigkeit des politischen Systems auf das Holz übertragen.

Zwischen den Sperrholzresten liegt, wie hindrapiert, ein „Neues Deutschland“ vom 4. Juli 1989, in dem die DDR-Führung beklagt, dass „europäische Grenzen angegriffen“ würden und die Bundesrepublik „die deutsche Frage wieder als offen“ begreife.
Besagter Artikel, den wir schnell überfliegen, bezieht sich auf einen Zwischenfall in Österreich, den ich noch deutlich im Gedächtnis habe: Der österreichische und der ungarische Außenminister hatten vor laufenden Kameras ein Loch in den Stacheldraht geschnitten, der ihre beiden Länder trennte.
Ich weiß noch genau, was ich damals dachte, als ich in der Tagesschau das Bild von den beiden Männern mit der Drahtschere sah: „Das ist sicher eine besonders perfide Polit-PR-Strategie. Wenn es dunkel wird, machen sie das Loch wieder zu.“ Die Teilung der Welt in West und Ost – das war für mich eine unumstößliche Tatsache. Ich hätte mir die Welt gar nicht anders vorstellen können. Doch – unfassbar –  das Loch blieb, und wurde zum Anfang vom Ende des Kalten Krieges.
Und ich weiß noch, was ich tat, als ich zwei Jahre später in Moskau auf dem Roten Platz stand: Die Nase schnäuzen. Weil mir mit einem Mal bewusst wurde, was da 1989 wirklich geschehen war.

Heute, sechzehn Jahre danach, trete ich in Deutschland aus einer russischen Turnhalle und stehe vor einem Lenindenkmal. Einer Steinfigur, dessen Kopf, ja, dessen Gesicht keine Konturen mehr hat. Wie es aussieht, hat sie jemand mit Zement zugekleistert.
Ein Lenin, der sein Gesicht verloren hat – das, denke ich, müsste in etwa das Gefühl wiedergeben, das die Russen von Alt-Daber beim Abzug hatten.
„Wir haben den Faschismus besiegt, aber den Kalten Krieg verloren,“ heißt es in einem Internetforum der „Westgruppe“ – und dass das kein Wunder sei bei einem Land, dessen Präsident sich im Westen so zum Narren mache. Der, Boris Jelzin, hatte bei der offiziellen Abschiedsfeier für die Soldaten deutlich betrunken versucht, ein Militärorchester zu dirigieren, und sich dabei von Dutzenden von Kameras filmen lassen.

In Brandenburg wurde der Abzug der Russen zuerst wie ein Sieg gefeiert. „Das Ende der Besatzungsherrschaft,“ jubelten die Zeitungen; und dass man nun endlich die Flächen, die die russische Armee geräumt habe, in Industriegebiete und Gewerbeparks verwandeln und Arbeitsplätze, Geld, ja, den Wohlstand in die Region holen könnte.
Doch dann stellte sich heraus, dass der Boden der meisten Areale versucht war und erst abgetragen werden musste, bevor er den strengen Umweltgesetzen der Bundesrepublik genügen würde.
Die Gewerbeansiedlung blieb aus, und dann wurden auch noch all die Schreckensszenarien real, die Marx und die kommunistischen Ideologen vom Kapitalismus gezeichnet hatten: Preise und Mieten stiegen weit schneller als die Löhne, Arbeitsplätze wurden durch Maschinen ersetzt, Produktionsstätten in Billiglohnländer verlagert.
Jugendliche schoren sich die Köpfe, kauften sich Bomberjacken mit Hakenkreuz-Aufnähern und bezeichneten sich als Nazis – als Anhänger einer Ideologie, deren Überwindung sich die DDR einst so stolz auf ihre Fahnen geschrieben hatte.
Und inmitten dieser Szenarien begannen mehr und mehr Brandenburger, die DDR als Hort von Sicherheit und Mitmenschlichkeit zu verklären – so, wie viele zuvor den Westen als Wohlstandsparadies verklärt hatten.
Und auf einmal gab es Leute, die sagten: Die Zeit mit den Russen war eigentlich gar nicht so schlecht. Eigentlich waren sie doch so etwas wie Beschützer.
Ich müsse das verstehen, sagt ein Politiker aus der Region. Die Leute seien verunsichert, weil sich seit der Wende so viel verändert habe in ihrem Umfeld: Weil die meisten Sicherheiten weg gebrochen seien. Weil es ihnen im ersehnten Westen schlechter gehe als in der ungeliebten DDR.
Da könne es schon mal passieren, sagt der Politiker, „dass man seine Vergangenheit plötzlich in einem neuen Licht sieht.“

Auch die Sicht der Russen auf ihr Gastland veränderte sich im Laufe der Jahre. Sie, die jahrelang in Ostdeutschland hinter Mauern und Schranken leben mussten – sie schwärmen heute in Veteranenforen von „den Stätten, an denen wir frei und glücklich waren.“
Genau das, was die Propagandaapparate der beiden sozialistischen Staaten 50 Jahre lang vergeblich als Wahrheit zu verkaufen versucht hatten. Und das jetzt, wo diese Apparate Geschichte sind, auf einmal freiwillig zu einer solchen erklärt wird.
Da ist es wieder, das Doppelgesicht der Welt: jedes Ding geht mit seinem Gegenteil schwanger. Auch heute noch, 150 Jahre, nachdem Marx diesen Begriff geprägt hat, im Russischen Deutschland, dessen russischster Ort einer ist, der von Russen aufgegeben wurde.

Vielleicht, denke ich, als ich mit dem Pressesprecher die Russensiedlung verlasse, vielleicht ist das der Sinn einer Reise auf der Chaussee der Enthusiasten: Dass man sich dieses Doppelgesichtes bewusst wird. Und wohin die Versuche, es zu zerstören, geführt haben: zu einem neuen Doppelgesicht.
Und dass es daher vielleicht um nicht mehr und nicht weniger geht, als diesen Antagonismus als Teil des Lebens zu akzeptieren. So, wie es Alexander Wertinski, der bürgerlichste der russischen Barden, am Schluss seines „Liedes über uns und die Heimat“ beschrieben hat:
„Es ist Zeit, nun zu bekennen, /
dass der Weg vergebens war. /
Dass wir nicht mehr lächeln können, /
uns entschuldigen sogar./
Dass es Zeit ist, still zu stehen, /
auszuruhen sich dabei, /
und ganz friedlich einzusehen: /
Das Vergangne ist vorbei.“

Der andere, viel banalere Sinn meiner Reise erfüllte sich am nächsten Abend, als ich in meiner Hamburger Wohnung saß und Mischa, mein russischer Bekannter, auf einen Begrüßungsschluck vorbeischaute. „Sexy Party?“ sagte er erstaunt, als ich ihm von meiner vergeblichen Suche erzählte. Und, wie mir schien, auch ein bisschen verärgert: „Deshalb bist du Monate lang durchs Land gereist? Mann, hättest du mir das einfach mal gesagt! Meine Frau hört die CD seit Wochen im Auto. Ich bin froh, wenn wir sie loswerden!“
Und dann fällt mir ein, was die russischen Einwanderer, die ich in den letzten Monaten getroffen habe, über eine solche Reiseplanung gesagt hätten: „Imet na glasah shori,“ Scheuklappen anlegen. Und dass es Scheuklappen braucht, um den Mut zu haben, in die Fremde zu fahren.