Traum und Trauma
…. so habe ich meinen Vortrag genannt. Der offizielle Titel , den Sie in Ihrem Programmheft finden, lautet: „Kulturelle Integration Russlanddeutscher – Herausforderungen und Ziele“.
Das ist ein abstrakter, beinahe formelhafter Titel, der bei Ihnen Erwartungen nach einer theoretischen Einordnung, einer wissenschaftlichen Problemlösung wecken dürfte. Ich möchte diese Erwartungen zunächst enttäuschen und Ihnen eine Geschichte erzählen.
Eine Geschichte von meinem Urgroßvater, dem Bauernsohn Alexander „Aleg“ Habenstein, 1886 geboren in einem deutschen Dorf an der Wolga, Bezirk Simbirsk, dem heutigen Uljanowsk. Einem Jungen von der Wolga, der nach dem ersten Weltkrieg Schlosser in einer Zeche im Ruhrgebiet wurde.
In den 70er Jahren pflegte er die ganze Familie an Sylvester, dem russischen „Novi God“, in sein Zechenhaus im Dortmunder Norden einzuladen. Die Männer tranken Korn, die Frauen werkelten in der Küche, und als alle satt und angeheitert waren, begann er zu singen; Lieder voller Sehnsucht und Melancholie, die alle irgendwie mit der Wolga zu tun hatten.
Während er sang, war er weit weg, abgetrennt von uns in einer anderen Welt. Nach ein paar Liedern schimpfte Wilhelmine, meine Urgroßmutter, jedes Mal „Alex, es ist genug!“. Dann begann er zu weinen, etwas, das in unserer Familie ansonsten kein Mann gewagt hätte. Und so befahl Wilhelmine jedes Mal mit strenger Stimme:
„Alexander, geh ins Schlafzimmer, um dich zu beruhigen!“ Sobald er das Zimmer verlassen hatte, seufzten die Verwandten: „Puh, der Alexander hat wieder seine verrückte Viertelstunde.“