Legende vom Glück ohne Ende
1986 wurden die Bewohner der ostukrainischen Stadt Pripjat en bloc nach Kiew umgesiedelt, in ein Hochhausviertel am Rand der Zweieinhalb-Millionen-Metropole. Ihre alte Heimat, die in Sichtweite des Tschernobyl-Reaktors lag, wurde nach dem Unfall in Block 4 komplett evakuiert. In Kiew wurden die schwer verstrahlten Kraftwerksarbeiter mit Ablehnung empfangen. Nun müssen sie auch noch gegen die Regierung ankämpfen.
(Von Merle Hilbk)
Dies ist die Legende vom Glück ohne Ende. Ein Glück, dass all denen verheißen wurde, die man in diese Stadt lockte; in diese „Stadt der Zukunft“, am Reißbrett entworfen und 1972 in die Polessje-Wälder gepflanzt. Dieses Pripjat im Norden der Ukrainischen Sowjetrepublik, wo der Mangel überwunden schien, der ansonsten den Alltag in der Sowjetunion bestimmte. Wo die Arbeit gut bezahlt war, die Läden voll, die Wohnungen groß und modern. Wo die besten Ingenieure, Techniker, die fleißigsten Arbeiter des Landes ein Zuhause finden sollten, 48.000 junge Leute, die aus allen Teilen der Republik angeworben wurden, um die „Tschernobylskaja Elektrostanzija imenini Lenina“ in Betrieb zu nehmen, das Lenin-Atomkraftwerk, dem diese Stadt ihre Existenz verdankte.
„Ach, wie waren wir froh, in Pripjat leben zu dürfen,“ sagt Nina Dzemula, die nach dem Studium aus dem westukrainischen Winniza mit ihrem Mann zur Arbeit ins Kraftwerk geschickt wurde. Denn ein Sowjetbürger konnte nicht frei wählen, wo er seine Arbeitskraft einsetzen wollte – darüber bestimmte der Staat. „Wir haben geglaubt, das Leben meint es gut mit uns,“ sagt die heute 50-Jährige. „Wir waren doch gerade Anfang zwanzig, und die Zukunft schien schon gesichert!“
Doch die Zukunft dauerte für die Dzemulas nur vier Jahre. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986, kurz nachdem Michail Dzemula seine Nachtschicht angetreten hatte, explodierte Block 4 des Kraftwerks. Trümmer und radioaktive Partikel wurden eineinhalb Kilometer in die Höhe geschleudert, Radioaktivität von 100 Hiroshima-Bomben freigesetzt, die Region schwer verstrahlt. Der GAU, der größte anzunehmende Unfall in der Geschichte der Atomkraft, war eingetreten. In Pripjat, der Stadt der Zukunft.